Carmen L. überlegt sich, einen Schritt «weg vom Bett» zu tun und weiss dabei besser, was sie nicht (mehr) will, als was sie will. Ihr Blick ist auf die Jahre gerichtet, die hinter ihr liegen, die unregelmässigen Arbeitszeiten, die Auseinandersetzung mit kranken Menschen, der zunehmende Arbeitsdruck. Doch es sind voraussichtlich ebenso viele (Berufs-)Jahre, die sie vor sich hat. Beruflich ist sie in der Lebensmitte, wenn sie bis zur Pensionierung arbeitet. Im Gespräch zeigt sich, dass sie im Grunde ganz zufrieden ist mit ihrer Arbeitsstelle und dennoch fragt sie sich: War’s das? Sie spürt eine diffuse innere Unruhe und zugleich einen Druck: Wenn wechseln, dann müsste das doch jetzt sein, bevor sie noch älter wird und die Chancen geringer sind, eine neue Stelle zu finden.
Angst vor Entscheid
Während wir die verschiedenen Aspekte der aktuellen Situation erörtern, wird deutlich, dass sich Carmen fürchtet, eine Fehlentscheidung zu treffen. Ja, ihr fällt entscheiden generell schwer und oft fehlt das Selbstvertrauen, mutig einen Schritt zu tun. Was, wenn es ihr dann doch nicht gefällt am neuen Ort, der Entscheid
falsch war? Falsch... Fehler... so schnell gesagt und so nachhaltig in der Auswirkung manchmal. Bei beruflichen Entscheiden geht es meistens um komplexe Fragen, ausser bei reinen Informationsfragen, wie beispielsweise: Wie lange dauert diese oder jene Weiterbildung, welches sind die Anforderungen? Aber schon die
Frage, welche Weiterbildung sich (für mich) lohnt, ist so einfach nicht mehr zu beantworten.
Richtig und falsch
In komplexen Situationen ist das Konzept von «richtig und falsch» nicht hilfreich, da es keine Eindeutigkeiten gibt. Es gibt höchstens ein richtig oder falsch im Hinblick auf ein klar definiertes Ziel mit klar definierten Schritten, was im beruflichen Kontext selten der Fall ist. Ist es falsch, in die Spitex/in den Behindertenbereich usw. zu wechseln, um dann zu merken, dass dies doch nichts für mich ist? Ist es richtig, 20 Jahre in demselben Betrieb zu bleiben?
Die Konzepte im Kopf erleichtern oder erschweren Schritte hin zu einer Veränderung. So können sie einladen für Experimente, fürs Ausprobieren oder für Vorsicht, für die Risikovermeidung. Sie sind wirksam im Sinne von Orientierung: Richte ich das Handeln darauf aus, nichts falsch zu machen? Oder an dem, was gemeinhin als richtig gesehen wird? Woran will sich Carmen L. ausrichten? Sie nimmt viele Fragen und Beobachtungsaufgaben mit nach Hause, um ihnen bis zum nächsten Beratungstermin nachzugehen.
Vertrautes Nest verlassen
In der zweiten Sitzung erzählt Carmen L., dass sie sich in einem Ambulatorium beworben hat. In der Auseinandersetzung mit all den Fragen hat sie gemerkt, dass sie den Schritt heraus wagen will. Es ist wichtig für ihr Selbstvertrauen, das «vertraute Nest» zu verlassen und neue Arbeitsgebiete kennenzulernen. Was hat diesen Schritt ermöglicht? «Klick» hat’s gemacht, als sie realisierte: Schlimmer als etwas «falsch» zu machen, wäre es, «nichts» zu machen. Ihr ist bewusst geworden, wie sie sich blockiert mit dem Fokus auf die Frage, ob es ihr an einem anderen Ort gefällt. Wichtiger ist für sie der Wunsch, neue Berufsfelder in der Pflege zu erkunden, den beruflichen Horizont zu erweitern. Im Hinblick auf dieses Bedürfnis ist sie auf der «richtigen» Fährte.
Bemerkungen