Vor dem Start auf der Station hatte ich viel Zeit, mir Gedanken über die Delikte der Patienten zu machen. Die Phantasie erlaubt einem nämlich viele abstruse Gedanken. Ich war auf vieles vorbereitet, doch als es so weit war und ich die Assessments durchgelesen habe, war ich schon fast (wirklich nur fast) wieder erleichtert als ich nichts dergleichen meiner Phantasie wiederfinden konnte. Diese Tatsache verändert natürlich nicht das Geringste an den passierten Geschehnissen.
Mir fällt es erstaunlich leicht, die Tat auf die Krankheit und nicht auf den Menschen an sich zu verstehen. Dies war eine meiner grössten Sorgen. Von Bekannten hörte ich oft den Satz: „Mit solchen Menschen könnte ich nie arbeiten!“. Viele haben noch nicht verstanden, dass eine psychische Krankheit etwas ist, das man ernst nehmen muss. Etwas, das der Mensch sich nicht aussucht, ihn jedoch verändert. Schizophrenie, die Diagnose fast aller Patienten auf meiner Station, verursacht Psychosen, Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Diese führen zu Realitätsverlust und in genau einer solchen Situation kann eine Straftat entstehen, ohne dass der Patient aus eigenem Wille gehandelt hat. Doch bei diesem Punkt stosse ich bei meinen Mitmenschen oft auf Unverständnis. Dies muss sich ändern, eine psychische Krankheit ist nicht zu belächeln!
Im Kontakt wirken die Patienten eher zurückhaltend, besonders mir gegenüber, da ich die Neue und auch erste Lernende auf dieser Station bin. Ich glaube, sie wissen noch nicht so recht was anfangen mit mir. Vieles kann ich noch nicht selbstständig ausführen, weshalb sie bevorzugt auf altbekannte Mitarbeitende zurückgreifen. Macht Sinn.
Der Beziehungsaufbau wird sich im Allgemeinen etwas langwieriger gestalten, denke ich. Auf den bisherigen Stationen habe ich schon gut mit Schweigen umzugehen gelernt, macht mir nichts aus. Wirklich. Aber dieses Ausmass an Schweigen auf der jetzigen Station ist nochmals anders.
Doch wenn die Patienten mich gerade nicht anschweigen, sind sie sehr freundlich, so wie andere Patient von anderen Stationen auch. Bisher fühlte ich mich noch nie bedrängt oder in die Ecke getrieben. Von dieser Freundlichkeit darf man sich jedoch nicht beirren lassen, denn ich weiss, dass die Patienten auch impulsiver und unberechenbarer sein können. Ich versuche, vor allem das Positive und Gesunde im Mensch zu sehen. Ansonsten wird das Arbeiten mit Menschen mit einem solchen Hintergrund auf längere Zeit wahrscheinlich schwierig.
Was ich immer wieder vergesse ist, dass jeder Patient auch ein Leben ausserhalb der Klinik hat. Einige haben Kinder, eigene Geschäfte und Arbeit. Hier zu sein bedeutet für viele einen Verlust vom gewohnten Alltag. Und der Alltag auf der Station ist ganz anders: es wird praktisch alles überwacht und dokumentiert, es gibt für gefühlt jeden Schritt eine Liste, man ist nur in seinem Zimmer für sich alleine. Alles in allem, die Autonomie wird zwar gefördert und gefordert, doch in einem so festgelegten Rahmen wie auf einer Massnahmestation, ist es eine etwas andere Form von Autonomie.
Bemerkungen