Als ich ganz frisch anfing, war es recht schwierig sich einzugliedern, denn es gibt einen Haufen Sachen, die man sich merken muss. Es dauerte bestimmt zwei Wochen bis ich alleine mit den Räumlichkeiten klar kam, denn die Unterkunft ist riesig und verläuft auch unterirdisch. Zum Glück war ich nicht alleine, insgesamt sind wir fünf Lernende in unterschiedlichen Semestern.
Die ersten Wochen waren reines Auswendiglernen von Namen – ungefähr 50 Patienten und etwa genau gleich viele Mitarbeiter -, von Tagesabläufen und das Wichtigste: Alles über den Umgang mit Patienten. Wobei mir letzteres am leichtesten fiel, denn entzogenen Patienten sind Menschen wie du und ich. Sie haben viel zu erzählen, denn jeder hat seine eigene Geschichte und eine möchte ich erzählen;
Eines Tages kam ein Patient auf mich zu, Mitte 40, kahlgeschorene Haare bis auf ein kleines Stück am Hinterkopf, eine Büroklammer im Ohr tragend und ausschliesslich in Tarnhosen zu sehen.
Seine Geschichte beginnt mit seiner Geburt in einen Haushalt, in dem Alkohol so normal war wie Zähneputzen. Der Vater starb als der Patient im Jugendalter war, worauf auch er der Sucht verfiel.
Seinen ersten Entzug machte er in Deutschland vor nicht allzu langer Zeit, lies Frau und Kind zu Hause in ihrem gemeinsamen Haus. Doch die dortige Klinik war ein Reinfall – reine Geldmacherei laut seiner eigenen Aussage. Der Tag begann Punkt 06:00 Uhr morgens mit einem Gongschlag und endete Punkt 22:00 Uhr mit dem automatischen Stromabstellen. Dazwischen fand zu jeder Minute eine Unterhaltung statt, egal wie unnütz sie auch war, Hauptsache die Patienten wurden abgelenkt. So kam es auch, dass erwachsene Menschen malen, basteln, filzen und werken mussten. Es gab keine Vorbereitung für “draussen“, sondern nur einen überstrukturierten Alltag, und keine Individualität. Das war zu viel für ihn und seine Frau kämpfte um seine Freilassung. Eine normale Entlassung war nicht möglich, denn mit seiner Unterschrift beim Eintritt verpflichtete er sich für vier Wochen Gehorsamkeit.
Als er wieder zu Hause war, wurde er bald schon wieder rückfällig, woraufhin er einen erneuten stationären Entzug machte. In dieser Zeit verliess ihn seine Frau, und beantragte das alleinige Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn, welches sie natürlich bekam. Nach seinem Aufenthalt setzte seine Frau ihn vor die Tür und auf der Strasse fand er schnell wieder in sein altes Muster. Dadurch verlor er auch noch seinen Job.
Das Absurde an seiner Geschichte ist, dass alles “verkehrt“ herum ablief, denn der “durchschnittliche“ Alkoholerkrankte verliert zuerst alles und macht dann den Entzug, wenn er am Tiefpunkt seines Lebens angekommen ist und auf einen Neuanfang hofft. Dieser Patient hingegen machte zuerst den Entzug und verlor darauf alles was ihm wichtig war. Trotz allem hat er bis heute weder seinen Humor, noch seine Lebensfreude verloren.
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