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Menschenwürde und Demenz

  • Esther Peyer

Im Zimmer einer Bewohnerin hängt an der Wand ein Bild mit der Überschrift: Tag der Menschenrechte. «Dies finde ich sehr wichtig!», sagt sie zu mir. Trotz ihrer Demenz, die bei ihr bereits viele Lücken in Gedächtnis, Sprache und Orientierung hinterlässt, spürt sie nach wie vor, dass dieses Thema eine sehr grosse Wichtigkeit in ihrem ethischen Empfinden hat. Sie weiss nicht mehr, wo ihr Zimmer liegt, jedoch weiss sie ganz genau und zutiefst in ihrem Innern verankert, dass jeder Mensch auf dieser Welt ein Recht auf Leben und Würde hat. Dieses Thema hat mich zum Nachdenken angeregt und ich setzte mich mit der Thematik auseinander, wie Menschenwürde und Demenz, trotz der einschneidenden Erkrankung, einhergehen.

Der Begriff Menschenwürde definiert das grundliegende Prinzip, dass jeder Mensch auf der Welt, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung oder Status, seinen Wert und seine Würde von Geburt bis zum Tode besitzt. In der Bundesverfassung ist die Unantastbarkeit dieser Menschenwürde verankert. Im Gegensatz zum Menschen haben Dinge in unserer Welt nur dann einen Wert, wenn sie von Nutzen sind. Der Mensch jedoch hat seinen Wert auch dann, wenn er gebrechlich, müde, erkrankt oder arbeitslos ist. Aus dieser Erkenntnis lässt sich ableiten, dass ein Mensch mit Demenz durch seine rein menschliche Existenz und zum Trotz aller krankheitsbezogener Symptome und Defizite eine ganzheitliche Menschenwürde besitzt.

Esther round
«Der Mensch jedoch hat seinen Wert auch dann, wenn er gebrechlich, müde, erkrankt oder arbeitslos ist.» 

Im Zusammenhang mit der Krankheit Demenz stellte ich mir die Frage: Was passiert mit der Menschenwürde, wenn die betroffene Person kein Selbsterleben mehr erfährt? Ist die Menschenwürde abhängig von einem subjektiven Empfinden? Die Antwort lautet: Nein. Die gesetzliche Menschenwürde ist ein rechtliches Konzept, das unabhängig von subjektiven Bewertungen gilt. Ich würde die Menschenwürde mit dem Boden vergleichen, auf dem wir alle gehen, stehen, kriechen oder liegen. Jedem Menschen ist er im Grunde gegeben, ohne Ausnahme. Eine unumstössliche Tatsache.

Daher würde ich im Zusammenhang zur Demenzerkrankung eher von einem Erleben der Würde sprechen. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Demenzerkrankung vor allem für Aussenstehende einen starken Kontrast zum Verständnis von Würde ausmacht – vor allem, wenn Themen wie zunehmender Verlust von Kognition, Selbstständigkeit und Autonomie zu einschneidenden Erlebnissen führen. Zu differenzieren ist dabei aber aus meiner Sicht, was eine aussenstehende Person als würdevolles Erleben für Menschen mit Demenz definiert und was schlussendlich betroffene Personen selbst empfinden. Für eine positiv erfahrbare Würde bei Menschen mit Demenz setzte sich die Pflege immer wieder aufs Neue mit Herzblut ein.

«Für eine positiv erfahrbare Würde bei Menschen mit Demenz setzte sich die Pflege immer wieder aufs Neue mit Herzblut ein.» 
Esther round

Aus meiner eigenen Erfahrung sehe ich bei Menschen mit Demenz wiederkehrend die gleichen psychischen Bedürfnisse, die Tom Kitwood wie folgt zusammenfasste: Liebe, Trost, Einbeziehung, Bindung, Beschäftigung und Identität. Sie alle geben der Person mit Demenz Wertschätzung und fördern ihr Wohlbefinden.

SO ZEIGT SICH WOHLBEFINDEN BEI MENSCHEN MIT DEMENZ:
  • Lächeln, Lachen
  • Entspannte Körperhaltung
  • Entspanntes Umhergehen
  • Freude an Aktivitäten
  • Positive und soziale Interaktionen
  • Andere Beschenken

Kann ich erreichen, dass sich eine Person mit Demenz wohlfühlt, so schenke ich ihr auch die Möglichkeit, sich würdevoll zu fühlen. Durch das Stärken der Identität, aber auch das Schützen vor Schaden und Unterstützen der grösstmöglichen Autonomie, schliesst sich wieder der Kreis mit der gesetzlichen Grundlage der Menschenwürde.

Bemerkungen

Esther Peyer

Esther Peyer ist diplomierte Pflegefachfrau im Gesundheitszentrum für das Alter Bombach der Stadt Zürich und berichtet über Themen und Situationskomik aus der Langzeitpflege. Mit ihren Blogs möchte sie Menschen im Pflegeberuf, oder jene, welche sich für die Pflege interessieren, zum Nachdenken, Mitfühlen und Schmunzeln anregen, ohne dabei Schwierigkeiten zu tabuisieren.

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