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Herbert

  • Katharina Rüdisüli

Dieses Erschrecken. Dieses Zusammenzucken. Es klingelt an der Türe und du weisst, dein Haar ist unordentlich und erwarten tust du auch niemand. Wer ist es? Die Post? Ich auf jeden Fall, denke seit letztem Jahr eigentlich immer sofort an Herbert. 

Es ist nun schon einige Zeit her, als er zum ersten Mal an unserer Tür klingelte. Strahlend weisses Haar, noch sehr agil und dennoch zeugen die vielen Lachfalten im Gesicht vom langen Leben. Höflich erkundigt er sich nach seinen Eltern. Die wohnen hier, es sei das Haus indem er aufgewachsen ist. Verblüfft hören wir zu und beginnen automatisch zu rechnen. Unmöglich, dass die noch leben können, bei seinem geschätzten Alter von etwa achtzig Jahren. Freundlich versuchen wir den Irrtum zu klären und er verabschiedet sich. Kaum ist die Tür zu, klingelt es erneut. Selber Mann, selbe Frage. Die Demenz liegt in der Luft. Dank meiner Grundbildung kenne ich die Anzeichen und habe gelernt zu validieren. Wir finden sein Heim zügig und seine Besuche werden häufiger werden. Herbert gehört bald in unsere Siedlung. Meist ist er bei schönem Wetter unterwegs. Einmal sucht er verzweifelt nach einer Übernachtungsmöglichkeit, sein Pyjama hat er schon unter dem Arm dabei.

Erinnern und Vergessen, ein grosses Thema, auch auf der Intensivstation. Nach einem Unfall kann das Aufwachen und sich erinnern oft nicht schnell genug gehen. Alle haben Fragen. Was ist passiert, warum ist es passiert, war es Absicht? Das Behandlungsteam interessierts für den Genesungs- und Therapieplan. Die Eltern plagen Ängste und Schuldgefühle. Manchmal interessierts auch die Polizei. Denn Recht und Ordnung soll auch bei uns sein. Wir haben Medikamente. Starke Medikamente. Da können wir auch mal helfen bewusst zu vergessen. Für eine schmerzhafte Intervention wie das Legen eines zentralen Gefässzugangs. Die Kinder schlafen ein, wachen wieder auf und alles ist vorbei. Doch da ist nun ein neuer Schlauch der gehegt und gepflegt werden will. Wie ist der dahin gekommen? Es ist eine medizinische Gratwanderung. Erleben heisst am Leben aktiv teilnehmen. Doch wie soll ich etwas verstehen, dass ich nicht miterlebt habe? Wenn der Schlauch einfach plötzlich da ist und da doch eigentlich nicht hingehört? Wieso soll ich ihn da lassen?

Das Leben ist voller Geschichten. Durch Geschichten lernen wir. Manchmal sind wir bloss Zuschauer, manchmal Hauptdarsteller oder zeitweise gar Regisseure. Auf der Intensivstation tritt das Gesundheitspersonal zu ganz unterschiedlichen Zeiten auf die Bühne. Manchmal helfen wir die Geschichte umzuschreiben. Manchmal wird die Situation besser, manchmal können auch wir ein Happy End nicht ermöglichen. Dann schaffen wir Erinnerungen an ein Leben, das war. Wie bei Herbert. Er erinnert sich, nur eben an Früher, an seine Kindheit. Es muss grossartig gewesen sein. Seine Augen leuchten, wenn er erzählt. Genau das versuchen wir auf der Intensivstation auch. Die Augen am Leuchten zu lassen oder sie wieder zum Strahlen zu bringen. Gut gibt es Medikamente für vorübergehendes Vergessen. Gut gab es Herbert. Er kommt nicht mehr. Wir wissen nicht, ob er schon bei seinen Eltern ist. Was bleibt, sind die Erinnerungen. An seine beharrliche Suche, seine leuchtenden Augen und seine Herzlichkeit. Ich werde wohl auch weiter an ihn denken, wenn es aus dem Nichts an der Tür klingelt. Und ich werde dabei lächeln, da bin ich mir sicher.

Bemerkungen

Katharina Rüdisüli

Als Dipl. Expertin für Intensivpflege arbeitet Katharina Rüdisüli im Universitäts-Kinderspital Zürich. Von ihrem abwechslungsreichen Arbeitsalltag, ihren emotionalen Begegnungen und abenteuerlichen Herausforderungen erzählt sie hier im PulsBlog. 

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