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Viel mehr als nur ein Spaziergang

  • Patryk Becker

Meine Lieblingsbeschäftigung im Stationsalltag ist definitiv der Spaziergang. Dabei spielt es keine Rolle, ob es ein Spaziergang in der Gruppe oder zu zweit ist. Viele psychiatrische Kliniken befinden sich in der Nähe eines Waldes, weshalb man sich in der Natur aufhalten und diese bewundern kann. Man kommt häufig ins Gespräch und da man eine Weile unterwegs ist, lernt man sich schnell besser kennen und baut eine Beziehung zueinander auf. Spaziergänge eignen sich somit perfekt als kleine Auszeit vom hektischen Stationsalltag. Ich würde gerne öfter einen Spaziergang als Intervention anbieten, doch leider reicht mir dafür nicht immer die Zeit.

Auf den meisten psychiatrischen Stationen werden Gruppenspaziergänge angeboten, da körperliche Bewegung in direkter Relation zu körperlichem und psychischem Wohlbefinden steht. Je nach Jahreszeit und Wetter kommt dies bei den Patientinnen und Patienten besser oder eben auch schlechter an. Kommt es bei der Person eher schlechter an, dann bedarf es seitens der Pflege häufig eine regelrechte Meisterleistung an Motivationsarbeit, um sie zu einem Spaziergang bewegen zu können. Sobald man jedoch einmal unterwegs ist, beschwert sich kaum noch jemand darüber, an der frischen Luft zu sein. Ein Spaziergang bewirkt jedoch viel mehr als lediglich den Bedarf an körperlicher Betätigung abzudecken. Er wirkt sich zusätzlich positiv auf die Gefühlsregulation aus, unterstützt Denkprozesse, stärkt das Immunsystem durch Senkung von Stresshormonen und hellt die Stimmung durch Erhöhung der Serotonin-Ausschüttung auf. Doch das ist noch nicht alles! Ein Spaziergang bietet zudem soziale Teilhabe und fördert somit den Beziehungsaufbau.

Stärkung des Gruppenzusammenhalts
Oft beginnt man mit Small Talk über das Wetter oder die Jahreszeit. Es hört sich vielleicht lustig an, aber das lockert die Stimmung auf. Meist hat jeder Anwesende etwas beizutragen und man springt von Thema zu Thema, es bilden sich Grüppchen und man diskutiert und philosophiert mit den verschiedensten Personen über die unterschiedlichsten Themen. Solche Gruppenspaziergänge werden als positiv erlebt und stärken den Zusammenhalt der Patientengruppe sowie die soziale Teilhabe im Alltag. Doch auch ruhige Gruppenspaziergänge gehören dazu, an welchen niemand sich zu Wort meldet und man die bedrückte Stimmung der Gruppe spürt.

Jeder Mensch hat ein Leben vor der Erkrankung
Nicht selten haben sich mir Patienten auf einem Spaziergang zu zweit geöffnet und mir ihre Lebensgeschichte offenbart. Dies wiederum dient ebenfalls dem Beziehungsaufbau, ehrlich gesagt ist es aber auch interessant. Jeder hat ein Leben vor der Erkrankung und hat Geschichten zu erzählen. Und ich finde, dass sie es alle wert sind, gehört zu werden. Die biografische Geschichte einer Patientin oder eines Patienten kann zudem Aufschluss geben über vorherrschende Verhaltensmuster, Charaktereigenschaften und Ressourcen. Kann man diese identifizieren, kann in der Pflege damit gearbeitet werden. Deshalb erachte ich es als sehr wichtig, dass die Pflege genügend Zeitressourcen zur Verfügung hat, um genau solche Spaziergänge durchführen zu können. Denn obwohl ich stets bemüht bin, mir die Zeit für pflegerische Interventionen wie Spaziergänge zu nehmen, gelingt mir dies in der Praxis nicht immer.

Bemerkungen

Patryk Becker

Nach der Lehre zum Fachmann Gesundheit in einem Spital startete Patryk Becker im März 2020 seine zweijährige Ausbildung zum Pflegefachmann HF in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Wie er die Arbeit im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (KJPP) erlebt, erzählt er im PulsBlog.

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