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Und plötzlich bist du für immer krank

  • Katharina Rüdisüli

Gerade als wir zum Dienst erscheinen, erreicht uns ein Notruf: Ein weniger als ein Jahr alter Junge zeigt Symptome einer diabetischen Ketoazidose. 

Rasch bereiten wir mit erfahrenen Handgriffen Insulin und alles Notwendige für eine Intensivstationseinweisung vor. Einfach gesagt handelt es sich dabei um eine ernste Stoffwechselentgleisung aufgrund von Insulinmangel. Insulin ist nötig, damit der Zucker, den die Körperzellen für Energie benötigen, in die Zellen gelangen kann. Bei diabetischer Ketoazidose fehlt dieses Insulin, und der Körper versucht, anderweitig genug Energie für alle Zellen zu gewährleisten. Dies hat langfristig lebensbedrohliche Folgen und betroffene Kinder benötigen intensivmedizinische Betreuung.

Ich werde für den Jungen zuständig sein und nehme ihn und seine Eltern in Empfang. Wenn die Kinder neu zu uns auf die Intensivstation kommen, haben wir erst einmal alle Hände voll zu tun. Wir müssen alle Kabel an den richtigen Ort kleben, damit wir die Vitalzeichen messen können. Wir leiten alle nötigen Therapien ein, verabreichen wichtige Medikamente für den Heilungsprozess, untersuchen regelmässig das Blut und sorgen dafür, dass die Patient:innen genügend Flüssigkeit erhalten. Wir sind eng im Austausch mit dem ärztlichen Dienst und versuchen, nebst all dem auch noch Zeit für die Anliegen der Eltern zu haben. Da hätte ich manchmal gerne zwei Hände mehr. Je kränker ein Kind ist, desto beschäftigter bin ich.

Kinder mit einer diabetischen Ketoazidose sind bei Eintritt sehr krank. Sie brauchen Insulin, Flüssigkeit, Elektrolyte, genauste Überwachung und zahlreiche Blutentnahmen. Der Junge nimmt das alles hin. Er ist so krank, dass er apathisch im Bett liegt. Seine Energie benötigt er für das tiefe Ein- und Ausatmen und so reagiert er kaum auf seine Umgebung.

Endlich stabilisiert sich der Zustand des Jungen allmählich. Er beginnt mir aufmerksam zuzuschauen, während ich arbeite und kontrolliert, ob sein Vater noch an seiner Seite ist. Nun kann ich mehr Zeit für die Eltern aufbringen. Mit der Besserung des Gesundheitszustandes ihres Sohnes kommen auch die Fragen. Als Pflegefachperson ist es unsere Aufgabe, diese Sorgen ernst zu nehmen, zu ordnen und an den ärztlichen Dienst weiterzuleiten.

Und dann kommt sie, die eine Frage: «Was haben wir falsch gemacht, eben war er doch noch ganz normal gesund?». Stell dir vor, du merkst deinem Kind geht es plötzlich gar nicht gut, und du kannst ihm zu Hause nicht mehr genügend helfen. Du kommst ins Kinderspital und erhältst professionelle Unterstützung. Alles, was dir aber bleibt, ist, neben dem Bett zu sitzen und zu schauen, wie all diese fleissigen Hände dein Kind untersuchen und therapieren. Schon klar ist da Raum für Schuldgefühle.

Es freut mich als Pflegefachperson, dass die Eltern Vertrauen zu mir fassen und mich fragen, was ihnen auf dem Herzen liegt. Und ich bestärke sie darin, alles zu fragen, was ihnen durch den Kopf geht. Es ist mir auch wichtig zu vermitteln, dass wir für gewisse Prozesse im Körper von aussen keinen Einfluss haben.

In den nächsten Stunden werden wir das Stoffwechselgleichgewicht des Jungen wiederherstellen, aber er wird weiterhin auf künstliches Insulin angewiesen sein. Sein Leben wird sich verändern, und wir übergeben die Familie nun an Diabetes-Experten, nachdem wir dank des schnellen Handelns im Notfall Folgeschäden vermeiden konnten.

Bemerkungen

Katharina Rüdisüli

Als Dipl. Expertin für Intensivpflege arbeitet Katharina Rüdisüli im Universitäts-Kinderspital Zürich. Von ihrem abwechslungsreichen Arbeitsalltag, ihren emotionalen Begegnungen und abenteuerlichen Herausforderungen erzählt sie hier im PulsBlog. 

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