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Nähe und Distanz

  • Parisa Abdulghani

Schon ganz am Anfang der Ausbildung wurde mir beigebracht, dass ich mit Patienten nicht per Du sein soll. Dies habe ich während meiner Ausbildung auch strikt eingehalten. Nun bin ich bei der Spitex wöchentlich zwei bis dreimal im Abenddienst tätig und setze diese Regel nicht immer um – dies aber aus ganz bestimmten Gründen.

Die Unterstützung einer bestimmten Klientin gestaltete sich für mich sehr anspruchsvoll, da sie "non-compliant" war. In der Pflege oder generell im Gesundheitsbereich sprechen wir oft von Compliance oder Non-Compliance. Wer ein kooperatives Verhalten zeigt, ist compliant. Wer sich gegen Unterstützung wehrt, gilt als non-compliant. Es gibt fünf Aspekte, welche die Compliance von Klientinnen und Klienten beeinflussen: Sozio-ökonomische Faktoren (Armut, Ausbildungsstand), patientenabhängige Faktoren (Wissen, Vergesslichkeit, Charakter), krankheitsbedingte Faktoren, therapiebedingte Faktoren (Nebenwirkungen) und gesundheitssystemabhängige Faktoren (Kostenübernahme, Behandlungsmöglichkeiten).

Die genannte Klientin leidet an einer mittelschweren Alzheimerdemenz und ist 85 Jahre alt. Sie war überhaupt nicht kooperativ und lehnte jegliche Hilfe von mir ab. Sie lehnte Unterstützung bei der Körperpflege genauso ab wie das Zubereiten von Mahlzeiten, die Abgabe von Medikamenten, meine Hilfe beim Umkleiden, das Gehtraining oder das Anlegen eines Kompressionsverbands. Doch von Arbeitskolleginnen und -kollegen hörte ich, dass sie bei ihnen compliant sei und habe erstaunt nachgefragt, wie sie das hinkriegen. Da erfuhr ich, dass sie die Klientin duzen und mit dem Vornamen ansprechen. Ich habe beschlossen, einen Versuch zu wagen und sie ebenfalls zu duzen. Seither ist die Klientin wie ausgewechselt. Sie isst die ganze Mahlzeit auf, nimmt die Medikamente korrekt ein, lässt die Körperpflege zu und freut sich sogar über den Einsatz. Da merkt man, dass die Theorie in der Praxis nicht immer anwendbar ist und es durchaus Sinn macht, manchmal bei Klientinnen und Klienten individuelle Anpassungen vorzunehmen.

Nur weil ich jemanden mit dem Vornamen anspreche, hat es nicht automatisch zur Folge, dass die nötigte Distanz zwischen mir und meinen Klientinnen und Klienten nicht gewährleistet ist. Ich duze die Klientin nicht einfach aus einer Laune heraus, sondern weil ich begründen kann, dass diese Massnahme unsere Beziehung verbessert.

Ich finde es schön, dass ich mich nun so gut mit ihr verstehe. Für die Klientin ist es wahrscheinlich so auch viel angenehmer, da sie sich nun wohl fühlt. Ich habe das Gefühl, dass sie denkt, ich kenne sie von früher, wenn ich sie mit ihrem Vornamen anspreche. Denn als ich sie mit ihrem Nachnamen ansprach, hat sie blockiert und gesagt sie kenne mich nicht und ich solle sie in Ruhe lassen.

Solange es für beide Seiten in Ordnung ist und die Pflegequalität positiv beeinflusst wird, bin ich der Meinung, dass man Klientinnen und Klienten auch mal duzen darf. Was meint ihr?

Bemerkungen

Parisa Abdulghani

Parisa Abdulghani schloss im Sommer 2019 ihre Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit EFZ ab. Was sie bei ihrer spannenden Arbeit bei Spitex Zürich Sihl alles erlebt, welche persönlichen Erfahrungen sie macht und was sie beschäftigt, erzählt sie im PulsBlog. 

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